Mädchen müssen mit schlechteren Physik-Noten rechnen

Physiksekundarlehrer und Physiksekundarlehrerinnen mit wenig Berufserfahrung benoten M?dchen bei gleicher Leistung deutlich schlechter als Knaben. Diesen Schluss zieht eine ETH-Lernforscherin aus einer Studie, die sie in der Schweiz, in Deutschland und ?sterreich durchf¨¹hrte.

Vergr?sserte Ansicht: Mädchen in der Schule
Ungleiche Voraussetzungen: Sch¨¹lerinnen werden in Physik schlechter benotet (Symbolbild). (Bild: Colourbox)

Stellen Sie sich vor, Sie sind eine Sch¨¹lerin und beantworten in einer Physikpr¨¹fung eine Frage genau gleich wie ein m?nnlicher Klassenkamerad, erhalten daf¨¹r aber eine deutlich schlechtere Note. Genau dies kommt regelm?ssig vor, wie sich aus einer Untersuchung von Sarah Hofer, Wissenschaftlerin in der Gruppe von ETH-Professorin Elsbeth Stern, schliessen l?sst.

Vergr?sserte Ansicht: Screenshot Prüfungsfrage
Physiklehrerinnen und -lehrer bewerteten diese Antwort auf eine Pr¨¹fungsfrage. (Screenshot: ETH Z¨¹rich / Sarah Hofer)

Hofer bat Physiklehrerinnen und Physiklehrer der Sekundarschule, in einem Online-Test eine Pr¨¹fungsantwort zu benoten. Sie legte den 780 Teilnehmenden aus der Schweiz, aus Deutschland und ?sterreich dieselbe Frage aus dem Bereich der klassischen Mechanik und die genau gleich formulierte ¨C nur zum Teil korrekte ¨C fiktive Sch¨¹lerantwort vor. Die ETH-Wissenschaftlerin variierte im Versuch jedoch eine kurze einleitende schriftliche Erkl?rung: Die eine H?lfte der Versuchsteilnehmenden ging daher davon aus, dass sie die Antwort ?einer Sch¨¹lerin? zu benoten h?tten, die andere H?lfte die ?eines Sch¨¹lers?. ?ber die Absicht ihrer Studie liess Hofer die Teilnehmenden im Dunkeln. Sie gab vor, es gehe um einen Quervergleich von zwei verschieden Methoden zum Korrigieren von Pr¨¹fungen.

Die Teilnehmenden benoteten die Physikaufgabe unterschiedlich. In ihrer Analyse verglich Hofer die Bandbreiten der Benotung der angeblichen Sch¨¹lerinnen mit jenen der angeblichen Sch¨¹lern. Die gute Nachricht vorweg: Bei Lehrerinnen und Lehrern, die seit mindestens zehn Jahren unterrichteten, hat das Geschlecht der Sch¨¹ler keinen Einfluss auf die Benotung. Die schlechte Nachricht: Lehrerinnen und Lehrern in der Schweiz und ?sterreich, die seit weniger als zehn Jahren unterrichten, benoten M?dchen signifikant schlechter als Knaben. Als Beispiel: Bei Lehrerinnen und Lehrern mit f¨¹nf und weniger Jahren Berufserfahrung macht die Benachteiligung von M?dchen im Schnitt 0,7 Noten (Schweiz) beziehungsweise 0,9 Noten (?sterreich) aus.

Wann Stereotype beeinflussen

?Lehrer mit wenig Berufserfahrung lassen sich bei der Benotung wom?glich mehr vom Vorurteil leiten, M?dchen seien in Physik schlechter als Knaben?, sagt Hofer. Bereits fr¨¹here Untersuchungen lieferten Hinweise darauf, dass M?dchen in mathematisch-naturwissenschaftlichen F?chern f¨¹r die gleiche Benotung mehr leisten m¨¹ssen. Meist wurde dabei jedoch das Fach Mathematik untersucht. F¨¹r das Fach Physik und den deutschsprachigen Raum ist diese Studie die umfassendste und aktuellste.

Es sei bekannt, dass Vorurteile oder Stereotypen dann einen Einfluss auf eine Bewertung h?tten, wenn dem Bewertenden nicht gen¨¹gend Informationen zur Verf¨¹gung st¨¹nden oder er stark beansprucht oder gar ¨¹berfordert ist, sagt Hofer. ?Lehrerinnen und Lehrer mit wenig Erfahrung lassen sich offenbar st?rker von Kontextinformationen wie dem Geschlecht beeinflussen.?

Uneinheitliches Bild in Deutschland

Eigenartig sind die Ergebnisse der neuen Studie f¨¹r deutsche Sekundarlehrerinnen und -lehrer mit weniger als zehn Jahren Berufserfahrung: Die Lehrer benoten Sch¨¹lerinnen und Sch¨¹ler gleich, die Lehrerinnen hingegen verhalten sich wie ihre Schweizer und ?sterreichischen Kolleginnen und Kollegen und benoten Sch¨¹lerinnen schlechter. Bei deutschen Lehrerinnen mit f¨¹nf und weniger Jahren Erfahrung betr?gt der Unterschied im Schnitt 0,9 Noten. Erkl?ren k?nnen Hofer und Elsbeth Stern, Professorin f¨¹r empirische Lehr- und Lernforschung, diesen speziellen Umstand anhand der erhobenen Daten nicht. Dass die deutschen (m?nnlichen) Lehrer wegen F?rderprogrammen f¨¹r M?dchen in den MINT-F?chern (Mathematik, Naturwissenschaften, Informatik, Technik) st?rker sensibilisiert seien als ihre Kollegen in den anderen untersuchten L?ndern, k?nnte eine m?gliche Erkl?rung sein. Allerdings gibt Hofer zu bedenken, dass es in allen drei L?ndern solche Programme gebe.

Im Online-Test variierte die Wissenschaftlerin in der Einleitung neben dem Geschlecht auch die Spezialisierung der der fiktiven Sch¨¹ler und Sch¨¹lerinnen in Sprachen oder Naturwissenschaften. Die Spezialisierung hatte keinen Einfluss auf die Benotung.

M?dchen werden nicht f¨¹r Anstrengung belohnt

Die schlechtere Benotung von M?dchen, die in dieser Studie aufgezeigt wurde, ist f¨¹r ETH-Professorin Stern Teil eines grunds?tzlichen Problems: ?M?dchen und Frauen k?nnen sich nicht darauf verlassen, dass sie f¨¹r ihre Anstrengung belohnt werden.? Mal w¨¹rden sie zu gut benotet, mal zu schlecht. Ihre Noten widerspiegelten weniger gut als bei Knaben und M?nnern die tats?chliche Leistung. Das mache f¨¹r sie die Orientierung schwierig. ?Wenn man schon als M?dchen in der Schule das Gef¨¹hl kriegt, dass man in den Naturwissenschaften nicht gerecht benotet wird, dann verliert man eher das Interesse daran?, so Stern. Naturwissenschaftlich begabte Frauen w¨¹rden sich leider zu oft anderen F?chern zuwenden, in denen sie st?rker gef?rdert w¨¹rden. Bei der gegenw?rtig vorangetriebenen MINT-F?rderung gelte es auch dies zu ber¨¹cksichtigen.

?Noten sind das Feedback, das Sch¨¹lerinnen und Sch¨¹ler f¨¹r Ihre Leistung bekommen, und sie wirken sich stark auf ihr Selbstverst?ndnis, ihre Motivation und ihre Anstrengungsbereitschaft aus?, sagt Hofer. ?Lehrerinnen und Lehrer sollen Noten daher sehr ernst nehmen?, so Stern. In der Lehrerausbildung solle man der Notengebung deshalb eine noch gr?ssere Beachtung schenken. In der Gymnasiallehrerausbildung an der ETH Z¨¹rich werde man das tun.

Ganz grunds?tzlich sollen Stereotypen kritisch hinterfragt werden, gerade aber auch in der Schule, sagt Hofer. Bei der Korrektur von Pr¨¹fungsfragen k?nne eine strukturiertere Herangehensweise mit klaren Kriterien Lehrern helfen, objektiv zu bewerten und Stereotypen auszublenden. ?Wichtig w?re es, dass Lehrerinnen und Lehrer bei jeder Pr¨¹fung ein Bewertungsschema verwendeten, das festlegt, f¨¹r welche Teilantworten wie viele Punkte vergeben werden und das klar definiert, was Fl¨¹chtigkeitsfehler und Folgefehler sind.? Hilfreich sei auch, wenn Lehrer beim Korrigieren den Sch¨¹lernamen abdeckten.

Literaturhinweis

Hofer SI: Studying Gender Bias in Physics Grading: The role of teaching experience and country. International Journal of Science Education, 2015, 37: 2879-2905, doi: externe Seite10.1080/09500693.2015.1114190

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